Horst Günther, Autor der UNIMA-Fachzeitschrift "das Andere Theater", schreibt über den Figurensommer Halle 2006: FIGURENSOMMER VOM 21. BIS 23. JULI 2006 Als jedermann verzweifelt den Schatten suchte, in dem sich aber auch nur die schweißtreibende Heißluft staute, da zogen Gestalten ganz in Weiß mit Schiffen, Fischen und anderen skurrilen Gebilden musizierend durch die glühende Stadt Halle an der Saale. Es waren die Werber für den Figurensommer angeführt von der Initiatorin Steffi Lampe. Dieser Umzug und sicher auch der gute Ruf der Veranstaltung in den vergangenen Jahren haben es bewirkt, dass alle Aufführungen im Burggraben bestens besucht waren. Ja, dieser Graben ist eine Klimaoase. Die hohen Mauern und die mächtigen Bäume, lassen den sengenden Sonnenstrahlen nur wenig Lücken, um durchzudringen. Gleich wenn man durch das große Tor gekommen ist und seine Schritte entlang des Weges nach rechts gelenkt hat, sieht man einen Freifeuerofen, der mit einer Glasscheibe, die zum Hindurchgucken auffordert, verschlossen ist. Dahinter befindet sich eine täglich wechselnde Sound-, Licht- und Objektcollage. Am ersten Tag steht da eine Gruppe kleiner tönerner Männlein mit schreienden Mäulern und erhobenen Armen, da liegt ein Playmobilpferdchen mit einer alten Puppe wie ein Liebespaar im Sand, da hat sich ein großer Kasper bedrohlich auf die Mauer gepflanzt. Der Witz ist, dass nichts zusammenpasst und dass dadurch Bewegung und mit ein bisschen Fantasie eine Geschichte entsteht. Der weitere Weg durch den Graben wird durch typographisch fein gestaltete Stofffahnen mit Sprüchen zum Thema Glück gesäumt. Gleich hinter der Kasse sind kleine ruinenähnliche Gebäude aufgestellt, auf deren Innenwänden javanische Schattenfiguren schemenhaft wie verwitterte Wandmalereien durchschimmern. Auf der linken Seite des Weges glotzen den Besucher weiße Masken an, die durch einen kostümierten Stoffkörper zur Figur ergänzt sind. Die gelungenste – ein mürrischer Alter im Liegestuhl. Das ist eben das Besondere am Figurensommer, dass bildkünstlerische Objekte nicht nur ein achtungsvolles Betrachten hervorrufen, sondern Gedanken und Gespräche provozieren, die mit Figurentheater zu tun haben. Nach diesem Rundgang durch die Objekte im Burggraben lassen wir uns auf einer der weißbezogenen Holzbänke nieder. Über uns wie immer die riesigen Segeltuchbespannungen, die uns zunächst nicht vor Regen schützen müssen, wohl aber vor der unbarmherzig brennenden Sonne. Lassen wir jetzt den Vorhang aufgehen... Wenn der Kasper aber nun ein Pech hat.
Aus einer unmöglich verbauten und kaputten Gartenlaube dringt das Brabbeln einer alten Frau: „... raus, du bist kein Vogel, du bist ´ne Katze!“ Dann zwängt sie sich durch die Tür, die Alte, mit Stock, mit dem sie auch den Blumen eine Hieb versetzt: „Ihr sollt wachsen, ihr Biester!“ Eine sehr bestimmende Person also, die Frau Adler, gespielt von Jan Mixsa als Menschendarsteller in Omaklamotten, einer unmöglichen Perücke und einer Stimme wie von einer Krähe im Blechkasten. Ihr Hausarzt Dr. Titel, ebenfalls als Menschendarsteller von Jörg Schmitt gespielt, kommt, um die verrückte Alte zu überreden, in ein Altersheim zu ziehen. Er ist ein nervöser Chaot, der alles verwechselt und dem nichts gelingt. Frau Adler erinnert ihn nachdrücklich daran: Er habe versprochen, mit ihr Kaspertheater zu spielen. Dr. Titel muss sich, trotz dringender Termine, ihrem Willen beugen. Die Jalousie über dem Fenster geht hoch, in der nun entstandenen Kasperbude erscheint der Protagonist. Er schleppt eine Überraschungskiste heran, und die ist überraschender Weise leer. Was nun folgt, ist ein rabiates Durcheinander mit Teufel, Hexe und dem Pech, ein schwarzer Wuschelkopf, ein Wesen das Kaspers Schicksal bestimmen will, und das Kasper auch mit Knüppelschlägen nicht los wird. Zuletzt gelingt es Kasper, das Pech gegen einen Giftpilz, der für die Hexe sehr wichtig ist, zu tauschen und Gretels Wunsch nach einem goldenen Kleid zu erfüllen. Das Mitspielen hat Dr. Titel so in Begeisterung versetzt, dass er am Schluss in einem Freudentaumel mit seinen Puppen auf der Hand abtanzt. Am späten Abend beglückt uns Jan Mixsa und sein Begleiter Rudolf Hild mit einer gemeinen Nachtmusik. Mixsa singt engagiert und gestisch, seine Texte sind gut, wenn er seine Angriffe gegen Kirche, Mode, Geschichtsverarbeitung in poetischen Bildern verpacken kann, weniger gut, wenn er Beschimpfungen direkt abfeuert, so wie in dem Lied von den Krankenkassen. Auf jeden Fall setzte Mixsas „gemeine Nachtmusik“ unter den erlebnisreichen Tag einen kraftvollen Punkt. Am nächsten Tag 16 Uhr – Familienvorstellung. Wieder steht eine verbaute Bude eines kauzigen Alten auf der Bühne, diesmal die von Petterson und Findus. Thomas Hänsel als Menschendarsteller erscheint in der Rolle des Gustavson mit Jagdhund an der Leine. Letzterer ist eine lebensgroße Schlenkerpuppe, die, mit einem Federstab geführt, ganz beweglich und lebendig wird. Der Hund wird von seinem Herrn angetrieben, den Fuchs zu finden. Durch Missverständnisse zwischen Mensch und Tier wird diese Szene zu einer komischen Nummer. Die nun folgende Handlung – also die Vorbereitung zu einem Knalleffekt, bei dem der Fuchs nicht erschossen, sondern geschockt werden soll, wird mit 30 bis 50 cm hohen von hinten zu führenden Ganzkörperfiguren gespielt. Diese Figuren – also Petterson, Findus, die Hühner usw. – entsprechen den Illustrationen des Buches und stammen aus der Werkstatt von Mathias Hänsel. Thomas Hänsel ist, wenn er die Figuren führt, ein „neutraler Spieler“. Er lässt sich von keiner Figur in emotionale Höhen und Tiefen mitreißen – aber durch seine Konzentration auf die optisch sehr effektvollen Vorgänge zieht er die Kinder in den Bann des Geschehens. Wenn sich ein Huhn „entkleidet“ und das künstliche Huhn auf einem Luftballon platzt, oder wenn ein gigantisches Feuerwerk Gustavson in Panik versetzt, dann schreien die Kinder vor Vergnügen. Am späten Abend des gleichen Tages – 21.30 Uhr, als sich die Sonne verabschiedet hatte und mit der Dunkelheit einwenig frische Luft sich ausbreitete, da ist die Zeit für Thomas Hänsels ultimativen Western Ballermann gekommen. Auf der Bühne eine Leinwand, sehr breit, zwischen Bühnenboden und gespannter Wand ungefähr 1,40 m hoher offener Raum. In der rechten Ecke im Lehnstuhl sitzt ein alter lebensgroßer Indianer. Hänsel bewegt von hinten sehr unauffällig den mimischen Kopf, und er verleiht ihm eine knatternde Stimme, ergänzt durch ein meckerndes Lachen. Der Alte erzählt von der Filmproduktion, dass der Film verschwunden sei und dass der Chef seitdem immer einen schlechten Tag habe. Dann schläft er ein. Auftritt Hänsel als Robert Ballermann – ehemals Filmregisseur, jetzt Alleinunterhalter. Er will dem Publikum auf besondere Weise das Erlebnis seines verlorenen Films ermöglichen. Mit flachen Pappfiguren – naiv und grotesk geformt von Thomas Hänsel – entrollt Ballermann die Filmhandlung als Schattenspiel. Es ist das Drama von Tom und Barbara und dem Freund, der eigentlich schon lange der Liebhaber von Barbara ist. Immer wieder will Tom nach Hause, immer wieder wird er abgehalten, z.B. durch Schießereien mit drei Todfeinden, und als er dann endlich daheim landet, findet er seinen Freund mit Barbara in heftigster Liebe vereint. Kurz vor Mitternacht gibt es noch Sex and Dependence – ein skurril-groteskes Trashpuppentheaterprogramm mit den Studenten der Hochschule für Schauspielkunst Magdalena Schlott, Stefan Spitzer, Ivana Sajevic und der Absolventin Inga Schmidt. Das Programm besteht aus gut vorgetragenen Liedern. Gut insofern, dass die Studenten einen Grundgestus in der Körpersprache und der Intonation konsequent beibehalten. Da gibt es die Verklemmte, die „Hallo man! – Coole“, die Geheimnisvolle und die unverschämt Erotische. Zwischen den Liedern witzige Puppenspielnummern und Versteigerungen. Es lässt sich nicht leugnen, ein Großteil des Publikums hat mit der Müdigkeit zu kämpfen, dennoch ein großer und verdienter Schlussapplaus. Am nächsten Nachmittag des letzten Tages ist wieder eine Familienvorstellung angesetzt. Da die Kleine Hexe erkrankte, wird Daniel Wagner mit seinem Tapferen Schneiderlein einspringen. Vor der Vorstellung – Regen. Deshalb sind nicht ganz so viele Zuschauer anwesend, und diese werden von Steffi Lampe mit Kaffee und Kuchen bei guter Laune gehalten. Der Regenguss war heftig, aber kurz. Voller Spannung richten sich die Augen der Kleinen und Großen auf die Bühne. Im Hintergrund eine rote Samtfläche, links eine Stehlampe, deren Lampenschirm von einer sandfarbenen Weste bedeckt ist, in der Mitte ein Tisch mit grünem Tuch, dahinter ein Stuhl mit gedrechselten Beinen, rechts eine Jagdtrophäe – ein Wildschweinkopf. Am letzten Abend Die Suche nach dem heiligen Gral, ein Ensemblestück mit Tanja Lüttner, Carsten Dittrich, Jan Mixsa, Regie Pierre Schäfer, Ausstattung Jan Mixsa. Um 23 Uhr ist die Bühne nochmals besetzt. Drei Studenten der Hochschule für Schauspiel zeigen ihre Performance Die Fakultät für Elfenkunde. Ein Professor für Elfenkunde hält eine hochwissenschaftliche Vorlesung über Feen, Trolle und Zwerge. Während seines Vortrages beginnen für ihn unsichtbare elfenartige Wesen mit Störmanövern – zunächst schalkhaft, später revoluzerhaft. Der Wissenschaftler reagiert irritiert und im weiteren Verlauf verzweifelt, dem Wahnsinn nah. Doch dann gelingt es ihm, eine ihn umschmeichelnde Elfe, die sichtbar geworden ist, zu packen und zu einem blauen Destillat zu verarbeiten. Der Figurensommer nähert sich seinem Ende. Eine Feuershow, kleine improvisierte Nummern und Musik zum Tanzen bilden den Abschluss. |