Horst Günther, Autor der UNIMA-Fachzeitschrift "das Andere Theater", schreibt über den Figurensommer Halle 2005:

FIGURENSOMMER VOM 22. BIS 30. JULI 2005
IM GRABEN DER BURG GIEBICHENSTEIN, HALLE

Eine studentische Kooperation der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“ Berlin Abt. Puppenspielkunst und der Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle

Es bleibt alles ganz anders, könnte man sagen, wenn man den diesjährigen Figurensommer mit dem des vergangenen Jahres vergleicht. Auch dieses Mal nahmen Spieler und Zuschauer die Wetterattacken gelassen hin; sie hatten auch allen Grund dazu; denn die riesenhaften Plastikfolien waren von den Burgleuten so genial über das gesamte Aktionsfeld gespannt, dass selbst der heftigste Regenguss ferngehalten wurde. Das Unwetter rächte sich für diese Abweisung, indem es die Vorstellung "Macht des Schicksals" mit dem lauten Trommelgeräusch aufprallenden Wassers belegte. Akteure und Zuschauer lachten über diesen Vorgang und mit hochgeregelter Lautsprecherverstärkung wurde weitergespielt.
Ja, die Stimmung war von Anfang an bestens.

Der erste Abend begann mit Jan Mixsas Solostück: Froschkönig. Der Spieler tappelt als meckernde Oma durchs Publikum und verteilt "Nüsschen" aus der Handtasche. "Die Schokolade" – so versichert die Oma, habe sie von den Ferreros sauber abgeschleckt. "... Ordnung muss sein – so wie früher... da gab es auch noch nicht diese esoterischen Studenten" Oma versucht auf die hohe Bühne zu krauchen – sie keift, weil es heutzutage keine hilfreichen Kavaliere mehr gibt. Plötzlich springt ein junger Mann aus dem Publikum eilfertig auf die Bühne und hilft der Oma aus dem Mantel. Seine Bereitwilligkeit wird von der Oma auch im weiteren Verlauf penetrant genutzt.
Was die alte Dame auf der Bühne veranstaltet, entwickelt sich zu mehreren verballhornten Varianten des Märchens vom Froschkönig. Die Oma war nämlich mal eine schöne Prinzessin... Eines Tages fällt ihr Bällchen in den Brunnen. "Da kommt Karl", ein cooler Typ, "der mit Taucherausrüstung den Kampf gegen die unterirdischen Fluten aufnimmt.
Jan Mixsas Figuren und Requisiten sind "hässliche Provisorien"; sie diffamieren das, was sie bedeuten. Mixsas Sprache legt sich wie eine stark karikierende Maske über die Figuren. So ist der Vater der Prinzessin, König Klaus, ein waschechter Sachse und die Prinzessin flötet jungferlich. Sie heiratet ihren Helden. Durch die Turbulenzen in der Hochzeitsnacht – klatsch – wird der Prinz ein Frosch, der von der Prinzessin als "grünes Wunder" begrüßt wird. Doch nach 17 Jahren Ehe hält der Frosch die immer häufiger nörgelnde Prinzessin nicht mehr aus und stirbt. Es folgt eines der vielen schönen bösen Lieder, die Jan Mixsa zwischen die Szenen setzt, nun also eine Art Abschiedslied: ..."ohne Zähne, ohne Haar..." Unzufrieden mit den "suizidösen Männern" bietet Oma eine neue Variante der Geschichte an: Da wird die Prinzessin zur Fröschin, daraufhin bekommt der Prinz einen Lachanfall. Die Froschprinzessin besteht auf einem Kuss und mit ihrem Riesenmaul verschlingt sie den Mann. Danach: triefender Sarkasmus im Schlusslied von der Reinkarnation. Diese Aufführung wurde als Eröffnungsfeuerwerk des Figurensommers vom Publikum jubelnd aufgenommen.
Schöne böse Lieder, triefender Sarkasmus.

Es gab an den nächsten beiden Tagen nochmals Jan Mixsa zu sehen, und ich möchte, ungeachtet der chronologischen Reihenfolge der Aufführungen, bei diesem Spieler bleiben. Hildegard, eine Komödie in Blech. Blechgerümpel, dass eine olle Hafenanlage darstellen sollte, wurde als Kulisse und als Schlagzeug benutzt. Jan Mixsa in mecklenburger Dialekt als aggressiv polternder Schiffer. Es ging um Weiber, die nichts taugen und die ihre Männer aus dem Fenster werfen oder noch grausamer behandeln. Es war im wörtlichen und metaphorischen Sinne unbeschreiblich, was Jan Mixsa dem immer wieder schrill auflachenden Publikum geboten hat.
Schrill, metaphorisch unbeschreiblich.

Die dritte Darbietung Jan Mixsas, Mirko oder das Ding aus Holz, war seine Variante von der Erschaffung der Welt, eine ins Schwarzlicht getauchte Glosse. Der Spieler erzählt im rüden Ton: "Am Anfang war nichts..." Gott war es langweilig, er lief mit einer Fliegenklatsche umher und ärgerte sich, dass es nichts zu klatschen gab; also schuf er das Leben. Er wollte mit jemandem Golf spielen, also schuf er Mirko, den männlichen Menschen, – ein ringförmiges Gebilde mit Schwänzchen, das mal Penis und mal Nase war. Mirko hatte auch zwei Beine, aber die riss Gott ihm wieder aus, weil der Kerl immer weglaufen wollte. Aus dem Kreuz schuf Gott die Frau. Für die Form von Mann und Frau haben die biologischen Geschlechtszeichen Pate gestanden. Jan Mixsa singt schön böse Lieder zur Gitarre, so z.B. "vom Weib und der angewandten Schizophrenie." Mirko wurde an der Frau festgekettet und so machten sie Kinder usw. usw. Gott sperrte die Menschen in Käfige, ein Käfig hing höher und so kam die Ungerechtigkeit in die Welt.
Was Chaotik und aggressiven Humor betrifft, ähnelte diese Vorstellung den vorangegangenen, aber hier war der Bedeutungshintergrund größer und das Weltgefühl bitterer.
Jan Mixsas Spiel ist unbändig und vital. Es ist schier unmöglich eine schlüssige Geschichte darin zu finden, (bzw. eine solche zu beschreiben!). Die Szenen scheinen als spontane Einfälle zu entstehen, ihre Verbindung ist mehr witzig als logisch, und immer wieder wird das Ganze mit frechen Improvisationen durchsetzt. Seine Aggressivität und Weiberfeindlichkeit wird wieder zurückgenommen und ironisiert, wenn er mit dem Charme eines jedem Weiberrock hinterherpfeifenden Bauarbeiters sein Publikum darauf verweist, dass das alles nur ein Spaß sei.
Jan Mixsa gehört zu den Spielern, die einen überlieferten Stoff, ob nun aus klassischen Märchen, moderner Belletristik, Bibel o.a. als Anregung benutzen, um daraus ihre freie gedanklich abweichende Spielfassung zu entwickeln. In den meisten Darbietungen des Figurensommers wurde versucht, die literarische Vorlage einigermaßen autorengemäß umzusetzen. Beide Methoden haben ihre Berechtigung und ihren Erfolg.
Chaotisch, agressiver Humor, bitteres Weltgefühl.

Am ersten Tag wurde ein Vordiplomprojekt, das unter Leitung von Waltraud Dießner entstanden ist, vorgeführt, Titel: Ehe die Menschen noch einmal ans Meer gingen nach einem Text von Ulrich Zieger. Ich kenne nicht die literarische Vorlage, aber das dürfte für meinen Eindruck auch keine Rolle spielen.
Zu Beginn stellen die Spieler ihre Figuren vor: der vermisste Trapezkünstler, der Sonnige, die Verschneite, die Verhagelte, der Kurzsichtige (letzterer die einzige vom Spieler hochgehaltene Puppe), das unsichtbare Kind, das Klischee (in Form einer klassischen Statue) u.a.m.
Im Foyer eines Strandhotels treffen diese Leute aufeinander. Sie sprechen in vornehmen Wendungen, um dann plötzlich wegen eines hochgeputschten Problems vulgär loszuschreien. Die eine läuft mit einem merkwürdigen sperrigen Gestell herum, eine andere hat sich in einen wahnsinnig langen Schleier gewickelt – alles Versuche sich selbst als "besonders" zu definieren. Diese Menschen brauchen und suchen Beziehungen, Kommunikation, aber ihnen fehlen wirkliche Inhalte und eine innere Substanz. Es geht um ihre verlorene Identität. Einige Textstellen, die wahrscheinlich der literarischen Vorlage zu danken sind, waren brillant, so z.B.: "Ich werde am Morgen mit anderem Namen erwachen." oder: "Ich bin ermordet worden, ich habe keine Ahnung, wie ich und was von mir ermordet wurde." Ein absurdes Stück, ebenso absurd die Kostüme und Requisiten. Da wird ein Kleiderständer oder eine Schranktür zur Person, in einem Käfig sitzt unsichtbar das Kind. Absurdes Theater kann unterhaltsam sein durch einen ganz eigenen Humor und durch den Schauder, den die vorgeführte Entfremdung hinterlässt. Doch diesmal kam diese Wirkung nicht zustande. Es ist nicht gelungen, die Scheinprobleme der Lächerlichkeit preiszugeben und die innere Leere so darzustellen, dass sich ein Publikum dafür interessiert. Die Studenten haben ordentlich gespielt, aber nicht überzeugend, das Publikum war aufmerksam, aber nicht berührt und nicht amüsiert.
Absurde Kostüme, brillanter Text, ohne dass das Stück zu berühren vermag.

Der zweite Abend begann mit Des Kaisers neue Kleider, vorgeführt von Janine Bohn und Judith Weidmann. Das Andersensche Märchen wurde in eine Rahmenhandlung gesetzt: Zwei flotte Damen auf einem Bahnhof mit Koffern, – sie sind auf der Flucht, sie werden wegen Betruges gesucht. Sie hatten sich nämlich als Schneider ausgegeben und den modenärrischen Kaiser mit ihren Stoffen, die angeblich nur von klugen Leuten gesehen werden können, nackt gemacht. Um den anwesenden Zuschauern die ganze Geschichte vorzuführen, benutzen diese Damen Figuren und Masken. Der Kaiser besteht aus einem Menschenleib und einer riesigen auf Brusthöhe befestigten Maske. Die von den Spielerinnen getragenen Puppen hatten Köpfe mit einer fein typisierenden Bemalung, eine Hand der jeweiligen Spielerin gehört ganz organisch zur Figur. Diese Ausstattung von Carola Pander, Martin Gobsch und Marc van der Kamp war witzig und bildnerisch professionell. Die Spielweise der beiden Damen hatte einen flotten Rhythmus, war begleitet von guter genau passender Musik und tendierte in Richtung Revue. Die Situationen waren eindeutig, die Charaktere geradlinig. Im Unterschied zum Originalmärchen, will der Kaiser die Tochter des reichen Neffen heiraten. Aber als die Prinzessin den fetten Kaiser im wilden Imponiergehabe tanzen sieht, versucht sie verzweifelt der Hochzeit zu entrinnen. Sie verbündet sich mit den Schneiderinnen, und sie ist es auch, die den Kaiser in seiner nicht vorhandenen Hochzeitskleidung öffentlich als "nackt" bezeichnet.
Die Inszenierung enthielt grandiose Details, so wenn der Finanzminister hin und hergeworfen wurde, um seine Entscheidungsnot – teure Kleider des Kaisers bewilligen ja oder nein – zu versinnbildlichen. Oder wenn eine Papierschneidemaschine benutzt wurde, um die als Papierfiguren gestalteten Hofdamen, die in Ungnade gefallen sind, zu köpfen.
Die Spielerinnen stiegen nicht voll und ganz in ihre Figuren ein, sie deuteten an und sie bedienten sich teilweise abgedroschener Sprachklischees (z.B. der näselnde Gefühlsminister).
Diese Aufführung war rund bis glatt, perfekt bis routiniert, heiter bis platt aber durchaus publikumswirksam.
Grandiose Details, heiter bis platt, publikumswirksam.

Ganz anders und wunderbar war die am dritten Abend gezeigte Aufführung Frau Maier, die Amsel von Christine Stahl (Regie: Paul Olbrich, Ausstattung: Sabine Tischmeier).
Nach einem schrulligen Kurzreferat über "begründete und unbegründete Angst" spielt Christine Stahl auf einem Tisch mit kleinen, wenig beweglichen Figuren, die in ihrer Gestaltung an Plastiken von Kindern erinnern, die Geschichte von der verheirateten Frau Maier, die immer und vor allem Angst hat. Ihr zeitungslesender Mann, der sich ganztägig von ihr bedienen lässt, zeigt deutlich, wie wenig er von seinem besorgten Eheweib hält. Frau Maier fürchtet z. B., dass der Bus mit vielen Leuten einen Unfall haben könnte. Und die vielen Leute müssten dann laufen, kriegten Hunger und kämen in die Nähe von Maiers Wohnung. Deshalb bäckt Frau Maier riesige Kuchen, sie will die armen hungrigen Leute zum Essen einladen. Da es keinen Unfall gibt, müssen die Maiers den Kuchen selbst aufessen. Eines Tages findet Frau Maier eine kleine Amsel. Natürlich hat Frau Maier sofort Angst, der winzige Vogel könne nicht überleben. Sie ersetzt nun die Vogelmutter, was ihr Mann spöttisch kommentiert. Je mehr sie sich um die Amsel kümmert, desto kühler behandelt sie ihren Mann. Er fühlt sich vernachlässigt und beschimpft das Ziehkind seiner Frau, "das wohl niemals fliegen kann!" Frau Maier versucht nun der kleinen Amsel das Fliegen beizubringen. Das geht nur durch Vormachen... Und wirklich, Frau Maier kann plötzlich fliegen. Sie fliegt ihrem Mann und ihren alten Ängsten davon. Christine Stahl erzählt diese Geschichte sehr einfühlsam, die Dialoge gestaltet sie mit einer kräftigen Charakterisierung, die mehr von einer ironischen Distanz und weniger von einer Identifikation à la Stanislawski geprägt ist. Mit den Figuren baut sie gestische Bilder und einige Male verharrte die Figur wie eine Statue und die Spielerin übernahm für sie Sprache und Ausdrucksbewegungen. Das alles war in sich stimmig, die Spielerin glänzte nicht durch extravagante Leistung, sie trat eher hinter die Geschichte zurück und gerade das war die Leistung.
Sehr einfühlsam, ironische Distanz, stimmig.

Ein ebenso leises poetisches Stück war Der kleine König Dezember, das von Inga Schmidt als Spielerin und Jae Hee Moon als Pianistin präsentiert wurde. Das bekannte und beliebte Buch wurde gekürzt zu sehr schöner untermalender Klaviermusik erzählt und andeutungsweise gespielt. Die Spielerin war "die Bürogeherin" und der kleine König Dezember war eine handgroße Ganzkörperfigur. Die Dialogpassagen, die mit dieser ausdrucksarmen Figur gespielt wurden, waren viel schwächer als das, was Inga Schmidt sehr differenziert und gefühlvoll erzählte.
Gefühlvoll erzählt, ausdrucksarme Figur.

Optische Überraschungen bot die Vorstellung des fünften Abends: Das Glück hatte ich mir anders vorgestellt. Es war wiederum Inga Schmidt, die spielte, diesmal unter der Regie von Mina Tinaburri. Auch diese Produktion basierte auf einer literarischen Vorlage, dem Roman von Aglaja Vetreranyi "Warum das Kind in der Polenta kocht".
Ein schwarzes Etwas, eine Halbkugel, schiebt sich auf die Bühne. Dieses Etwas ist das "Nichts". Plötzlich erscheint oben ein schwarzfleckiger Mädchenkopf, an der Seite die Hände. Aus dem "Nichts" entstehen laufend neue Räume und Figuren. Diese Figuren sind zehn bis dreißig Zentimeter klein, aus buntbemaltem Holz, Schaumgummi und Zutaten aus anderen Materialien. Die "Stahlhaare" der Mutter bestehen aus Drahtkissen wie man sie zum Töpfe reinigen benutzt. Die Figuren erscheinen in Durchbrüchen und Schlitzen der Halbkugel. Besonders eindrucksvoll: Aus einem kleinen Loch zwängt sich ein Ärmchen. Es drückt gegen die Wandung und so können sich Kopf und Körper eines kleinen Wesens aus Schaumgummi herausschieben – eine Geburt. Die Geschichte, die von dem schwarzgesichtigem Mädchen in der Ich– Form erzählt und mit glänzenden optischen Einfällen gespielt wird, ist verästelt und verworren; der Kern ist folgender: eine Zirkusfamilie, arm aber voller Liebe zum Zirkus. Die Mutter ist die Frau mit den Haaren aus Stahl; der Vater ist Löwendompteur, macht aber (in einer gut gespielten Nummer) seinen Löwen kaputt; das kleine Mädchen möchte Filmstar werden. Die Familie wird von dem Staat, in dem sie lebt, vertrieben, wird an der Grenze zurückgewiesen, kann aber durch einen Koffertrick passieren. Die Mutter stirbt durch einen Unfall – ihre Haare reißen in der Schleudernummer. Das Mädchen hat eine Schachtel, in der der Herzschlag der Mutter aufbewahrt ist.
Die Unfallszene gehört übrigens zu den wenigen Momenten, an denen die Spielerin die schwarze Halbkugel verlässt und sich im Bühnenraum bewegt.
Dass Inga Schmidt wunderbar erzählen kann, haben wir schon am vorhergehenden Abend erfahren, aber in dieser Inszenierung hat sie auch die kleinen Figuren meisterhaft und sensibel bewegt.
Diese Inszenierung ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie eine epische Vorlage aufgelöst werden kann in optisch abwechslungsreiches Spiel.
Wunderbar erzählt, meisterhafte Figuren, mit optischen Überraschungen.

Der sechste Abend – Ronja Räubertochter gespielt von Inga Schmidt und Carsten Dittrich, Regie: Friederike Krahl, Ausstattung: Inga Schmidt. Und wieder ist es ein Buch, dessen Inhalt querschnittartig mit Figuren umgesetzt wurde.
Eine echte Wurzel als Wald und Burg.
Der Anfang wird erzählt: In einer Gewitternacht wird Ronja als Tochter des Räuberhauptmanns Mattis geboren.
Plötzlich verwandeln sich die Spieler in Truden, indem sie sich Brillen mit starren bösen Blick aufsetzen und sich lauernd und gierig bis in die Reihen der Zuschauer hineinbewegen. Sie wollen das neugeborene Mädchen holen. Sie bekommen es nicht, aber ihr Freund, das Gewitter, spaltet die Mattisburg.
Von diesem Punkt an übernehmen kleine Ganzkörperfiguren, die von hinten gut zu fassen und zu bewegen sind, die Handlung. Ronja geht in den Wald, begegnet dem am gleichen Tag geborenen Sohn des Räuberhauptmannes Borka. Er rettet ihr das Leben, später rettet sie ihm das Leben – sie werden Freunde und wollen die feindlichen Väter miteinander versöhnen. Der Weg dahin ist schwer, er geht über Vermittlungsversuche der Mutter über Erpressungsattacken der Väter bis hin zum Zweikampf. Am Ende gibt es eine Einigung. Doch das junge Paar entsagt dem Räuberberuf.
Die Inszenierung beschränkt sich auf diesen roten Faden und lässt Nebenstränge und atmosphärische Details des Originals aus. Einige Szenen wurden sehr gut ausgespielt und es entstanden schöne Bilder. So wenn aus der Podestkiste die Graugnome auftauchen oder wenn aus einer Spielerhand eine Trude wird. Und bei: "Es wird Winter" nimmt der Spieler ein letztes Blatt von der Bühne und ein Schneetuch legt sich über die Burg. Ich hätte mir aber entsprechend dem Buch mehr Abwechslung, noch mehr und extremere Bilder gewünscht. Die Truden waren das Eindrucksvollste, das Figurenspiel blieb in der Wirkung dahinter zurück. Die Wurzel gibt nicht genug unterschiedliche Handlungsplätze her und die Puppen müssen lange reden und miteinander verhandeln, um den Inhalt der Geschichte umzusetzen. Allerdings wurden die Figurenbeziehungen gut gespielt und die Dialoge stimmig gesprochen.
Schöne Bilder, Puppen müssen lange reden.

Der eigentlich Knüller des Figurensommers kam am achten Abend mit Die Macht des Schicksals, vor einigen Jahren von Anne Frank inszeniert, Ausstattung: Christian Werdin, Darsteller: Hans–Jochen Menzel und Pièrre Schäfer.
Die beiden Engel Johanna (Hans–Jochen Menzel) und Johannes (Pièrre Schäfer, beide in komisch andeutender Verkleidung) sitzen Harfe klampfend vor ihrer Puppenbühne im Himmel. Sie spielen das Märchen von Hans im Glück, oder besser – sie spielen mit dem Märchen. Der goldhaarige Generaldirektor, also Gott, hat was gegen die im Märchen vorgesehenen Tauschgeschäfte, er will Harmonie – also dass Hans schnell zu seiner Grete kommt. Doch irgendwie kommt es immer zum Tausch, erst mit dem Herrn Shakespeare, der auf dem Pferd Pegasus reitet, dann mit einem psychotherapeutischen Bauern usw. usw. Das Ganze ist ein unbeschreibliches Feuerwerk an Witz und spielerischen Einfällen. Es ist eine Art Humor, die den Zuschauer fesselt; die beiden spielen die Haltungen ihrer Figuren konsequent und souverän, und gerade dadurch entsteht Ironie.
Der Zuschauer muss aufpassen, dass er nicht zu früh ablacht, sonst verpasst er etwas und deshalb verfolgt er fasziniert den Fortgang der Szene und erlebt die permanente Steigerung des Komischen. Das Ganze wird möglich durch die freche, lustig–provisorische Ausstattung von Christian Werdin. Anstelle ordentlicher Flügel haben die beiden Engel graue Federn auf den Rücken geklebt, das Pferd wird gezeigt in Form eines riesigen Pferdearsches – eine Flachfigur unter der Shakespeare und Hans zusammen hocken. Die jeweilige Physiognomie der glattpolierten Holzköpfe entspricht genau dem Gestus mit dem die Figuren gespielt werden.
Gebrochen durch die Komik der Figuren werden tiefgründige Fragen aufgeworfen, z.B. "Was ist Glück" oder "Wie lange dauert die Ewigkeit". Natürlich werden solche Fragen mit köstlicher Ironie beantwortet, aber im Kopf der Zuschauer schwingen diese Fragen heiter weiter.
Unbeschreibliches Feuerwerk an Witz und Einfällen – ein Knüller.

Am neunten Abend, also dem letzten des Figurensommers, gab es keine Abschwächung. Das Märchen vom guten Ende – eine Diplominszenierung mit Jae Hee Moon, Annika Pistl, Karin Schmidt, Regie: Hans Jochen Menzel – war eine kollektive Meisterleistung.
In dieser Inszenierung werden grausame Tatsachen nicht nur als Ergebnis gezeigt, sondern der ganze ekelerregende blutrünstige Prozess wird genüsslich vorgeführt. Grimmsche Märchen, die man nicht kennt oder als seltsam aus dem Gedächtnis gestrichen hat und die eigentlich absolute Horrorgeschichten sind, werden fast wortgetreu und mit wundervollen theatralischen Einfällen auf die Bühne gebracht. Es beginnt mit den "drei Feldscherern". Drei Gestalten, deren Gesichter und Kleidung leichenblass und blutverschmiert sind, zelebrieren ihre Geschichte: Sie wollten ihre ärztliche Kunst beweisen, indem sich der eine die Hand, der andere die Augen und der dritte das Herz herausrissen, um sie nach einer Nacht wieder anzufügen. Aber eine Katze stahl die im Kühlfach aufbewahrten Körperteile. Weil das Ende bei Grimm schrecklich und ungerecht ist, erfinden die Spielerinnen eine Wendung zum Guten.
Die Spielerinnen bleiben in der Kostümage der Feldscherer. Sie lassen sich teils spielend, teils erzählend über die Ungerechtigkeit Gottes aus. Es ist ungerecht, wenn das herausgestreckte Ärmchen des "eigensinnigen Kindes" ins Grab zurückgeprügelt wird. Es ist ungerecht, wenn der Tod dem Kasper den Kopf abreißt, obwohl Kasper dem Tod zum Leben erweckt hat. Es ist ungerecht, wenn am laufenden Band Frauen vom teuflischen Hexer zu Tode gebracht werden, bloß weil sie das verbotene Zimmer betraten.
Wenn die Spielerinnen in die bösen Rollen schlüpfen entstellen sie ihre Gesichter zu sadistischen Fratzen. Sie schaffen Bilder, die zugleich grausig und faszinierend sind. Besonders verblüffend war, wie der Teufel eine Kiste mit einer Frau wegschleppte, gespielt von nur einer Darstellerin, deren Kopf scheinbar aus der Kiste ragte, zusammen mit zwei über den Kistenrand gelegten künstlichen Beinen ergibt das eine Gestalt, deren Leib in der Tiefe der Kiste zu vermuten ist. Der Teufel besteht aus den Beinen, dem Leib und den die Kiste tragenden Armen der Spielerin, obenauf sitzt der Teufelskopf mit Gewand, und alles verbindet sich organisch miteinander.
Grausame Tatsachen genüsslich vorgeführt, kollektive Meisterleistung.

An dieser Stelle höre ich auf zu beschreiben, erstens, weil manchmal das Gesehene und Erlebte nicht adäquat mit Worten wiederzugeben ist, und weil zweitens diese Aufführung die letzte des Figurensommers war. Nicht ganz, denn nachdem das Publikum großen Applaus gespendet hatte, begab man sich auf einen Platz, wo Studenten der Hochschule für Design und Studenten der Fachrichtung für Puppenspiel gemeinsam ein Maskenspiel zeigten. Die Körpersprache und die Wirkung der Masken waren beeindruckend. Inhaltlich konnte ich schlecht folgen, weil ich als kleiner Mensch mitten unter größeren Sichtprobleme hatte.
Die Idee des Figurensommers stammt von Steffi Lampe; bildkünstlerische und darstellerische Äußerungen sollen sich begegnen und sich verbinden.
Der Burggraben mit seinen prächtigen Bäumen, das alte Gemäuer ringsum, der Sandberg mit einem alten Sofa darauf und nicht zuletzt die grafischen und plastischen Exponate der Burgstudenten – das alles schmilzt zusammen zu einem urigen Bild das lustig gekontert wird durch einen plastenen Getränkestand.
Durch dieses Gemisch aus Romantik und künstlerischer Arbeitsatmosphäre spürt der Besucher sofort – hier wird etwas Besonderes geboten, – nichts Perfektes, sondern eher etwas Provozierendes. Der Figurensommer kennt keine Misserfolge. Das Publikum ist begeistert oder zumindest heiter gestimmt. Das hängt auch mit dem Drum und Dran der Veranstaltung zusammen: Vor jeder Aufführung spielt kurz die Band, die dann auch nach dem Puppentheater die Gäste unterhält.
In den Pausen kann man sich die Ausstellung der Burgstudenten ansehen, neben Getränken kann man liebevoll geschmierte Fettbemmchen erwerben. Die Besucher stehen in Grüppchen zusammen und reden, zunächst über das Gesehene und dann über Gott und die Welt. Und sollte mal eine Aufführung nicht der eigenen Kragenweite entsprochen haben, die Musik im Anschluss sorgt immer wieder für beste Stimmung.
Hier wird Besonderes geboten, nicht perfekt, sondern provozierend.

*Teile dieser Berichterstattung können Sie auch in der Dezember-Ausgabe der UNIMA-Fachzeitschrift "das Andere Theater" lesen.

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