Sonderbericht für die Fachzeitschrift der UNIMA "das Andere Theater"
Ausgabe Januar 2005
Horst Günther

Figurensommer 2004 in Halle an der Saale

Gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, erlebte ich in meiner Heimatstadt Halle außerordentlich vergnügliche Sommerabende im Burggraben der Burg Giebichenstein. Am ersten Tag, der Veranstaltungsserie, am 23.7., mussten noch die Sabotageattacken des Wetters durch eine die Bühne und den Zuschauerraum überspannende riesenhafte Plastefolie abgewehrt werden. An den darauffolgenden Tagen war der Himmel den Künstlern wohlgesonnen. Wer waren die Künstler, woher kamen sie, was wollten sie?
Es waren Studenten der Hochschule für Kunst und Design an der Burg Giebichenstein (Halle) sowie Studenten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Fachrichtung Puppenspielkunst (Berlin), allen voran Steffi Lampe, Puppenspielabsolventin, die gemeinsam alles organisierten und künstlerisch mitgestaltet haben. Ich werde mich in meinem Bericht auf die Puppentheaterinszenierungen beschränken, will aber zuvor bemerken, dass das Nebeneinander der verschiedenen Genres (Musik, Figurentheater, Tanz, Bildhauerkunst, Zirkus, Grafik) den besonderen Reiz dieser Abende ausmachte. Und ganz besonders brisant waren die Erlebniswelten, in denen bildende und darstellende Kunst sowie Musik zusammenwirkten. Die Aufführung, die aus dem Workshop „Tanz und Skulptur“ hervorgegangen ist, zeigte gemalte ineinanderfließende Lichtprojektionen auf wechselnden Flächen. Davor und dazwischen bewegten, tanzten, gebärdeten sich menschliche Gestalten auf deren weißer Kleidung sich die farbigen Projektionen wiederfanden. Es entstanden Bilder der Entfremdung, der Liebe und des Kampfes.
Die Darsteller waren sowohl Studenten der Fachrichtungen Puppenspiel als auch Studenten der Hochschule für Design.
Das Publikum dankte für diesen und alle anderen künstlerischen Beiträge nicht nur durch kräftigen Applaus, sondern auch durch eine „gute Stimmung“, die sich über die Gespräche legte.
Es geht letztlich immer darum, dass die Künstler ihr Weltempfinden in einer Aufführung veröffentlichen und damit die Zuschauer anregen, mit ihren Gefühlen und Gedanken nicht allein zu bleiben, sondern sich gegenseitig auszutauschen. Der Figurensommer hat dies auf hervorragende Weise geschafft.
Nun aber zurück, zur ersten Puppentheateraufführung! Auf dem Programmblatt steht: „Kasper tot. Schluss mit lustig? – Ein Handpuppenspiel auf der Grenze zwischen Leben und Tod“. Des weiteren erfahre ich aus dem Programm, dass es sich um ein freies Diplomprojekt von und mit Lutz Großmann in Zusammenarbeit mit dem Theater Waidspeicher Erfurt handele und dass Jochen Menzel Regie geführt habe.
Auf der unteren Ebene der dunklen engen Kasperbude schmieden Tod und Teufel ein Komplott: Kasper soll sterben, Schluss mit lustig! Die freiwerdende Seele soll selbstverständlich dem Teufel überschrieben werden. Auf der oberen Spielleiste versucht der Tod, das Publikum davon zu überzeugen, dass Kasper überlebt, lahm, dämlich sei. Und er scheint recht zu haben, es erscheint Kasper, ein kalkiger Punker, dem beim Witze erzählen die Pointe im Hals stecken bleibt: „Was ist mit meiner Frau los? Im Bett ist die wie immer, aber in der Küche sieht´s aus! ...?“ Der Arzt, alias Teufel, schüttelt, drischt die Pointe aus Kaspers Hals: „Die Frau ist tot“. Der Arztbesuch bestätigt: Kasper ist am Ende. Er begegnet seiner Großmutter, die vom Totenbett aufgestanden ist; eigentlich will sie sterben, aber es gelingt ihr nicht. Da sich die Oma bewegen kann, verlangt der König vom Kasper das Pflegegeld zurück und außerdem Steuern, sonst –„Kopf ab!“ Kaspers Grethe befreit den Polizisten von seinem klemmenden Helm und beginnt ein Liebesverhältnis mit dem König. Alles hat sich gegen Kasper verschworen und Schuld daran ist der Text, der vom Inspizienten, alias Tod, verfasst wird. Kasper will sich nicht mehr der „Macht des geschriebenen Wortes beugen“ und ergreift den Knüppel, aber „Gewalt ist keine Lösung!“ Kasper landet auf dem Totenbett und sammelt Geld für die eigene Trauerfeier. Dann gelingt´s ihm, sich mit der sterbewilligen Großmutter auszutauschen. Es siegt am Ende die Macht des „nichtgeschriebenen Lebens“.
Ein bitterböses Spiel zum Totlachen, herrlich gespielt mit bewusst heftigen, aber dennoch präzisen Bewegungen, mit treffenden Sprachmasken und einem faszinierenden Rhythmus. In dieser Inszenierung ist die Tradition des klassischen Kasperspiels im doppelten Sinne des Wortes „aufgehoben“. Also „aufgehoben“ im Sinne von „nicht mehr gültig“ und „aufgehoben“ im Sinne von „aufbewahrt“. Die traditionellen Figuren (übrigens meisterhaft gestaltet von Lutz Großmann) nehmen zeitgemäße Sozialrollen an und mit lakonischem Wortwitz zeichnen sie ein sarkastisches Bild unseres gegenwärtigen Alltags.
„ Aucassin und Nicolette“, das mittelalterliche Singspiel gehört zu den Stücken, die ich so sehr schätze und liebe, dass mich ein unproduktiver Respekt bisher an einer puppentheatralischen Umsetzung hinderte. Umso mehr bewundere ich den mutigen Zugriff der Alleinspielerin Steffi Lampe, die sich über die eigentlich reizvoll gestelzte Sprache und die trockene Formelhaftigkeit des Originaltextes hinwegsetzte und mit ihren Regisseuren Mina Tina Barri und Ulli Erwitz eine eigene handfeste und höchst dramatische Fassung geschmiedet hat. Die Ausstattung – Barbara und Günther Weinhold – ein sich in verschiedene Schauplätzen verwandelnder Wagen, dazu beinhohe „Genickfaßfiguren“, sowie Masken für die Alleinspielerin. Mir schien die bildnerische Gestaltung der Figuren mit ihren naturalistischen Details und einer barbiehaften Glätte und Perfektion nicht zur Rahmenhandlung einer mittelalterlichen Schaustellerin auf Reisen zu passen. Aber Steffi Lampe spielt mit großer Treffsicherheit die bildnerisch angelegten Typen; sie belebt und wechselt die Figuren in akrobatischer Geschwindigkeit. Schwungvoll und mit unverhohlener Fröhlichkeit serviert sie die klassische Liebesgeschichte. Aucassin, Sohn des Grafen Beaucaire, darf Nicolette, eine ausländische Kriegsgefangene, nicht lieben. Nur wenn er für seinen Vater in den Krieg zieht, dürfe er sie wiedersehen. Der Liebe wegen führt Aucassin erfolgreich Krieg. Zurückgekehrt sieht er sich um den versprochenen Lohn betrogen. Nicolette ist aus grausamer Gefangenschaft geflohen. Aucassin sucht und findet sie im Wald. Gemeinsam fahren sie in das Land des Königs Torelore, der sich einbildet, ein Kind zu bekommen. Durch Kriegswirren landet Nicolette auf einem Schiff des Königs von Karthago. Es stellt sich heraus, dass dieser ihr Vater ist. Nachdem die daraus resultierenden falschen Erwartungen beseitig sind, können sich Aucassin und Nicolette für immer vereinen. Steffi Lampe benutzt die Situationen dieser Geschichte und ihre Figuren um sich komödiantisch zu entfalten. Mit Charme und mit ganz viel Spaß am Karikieren bringt sie das Publikum zum Lachen und Staunen. Mir war allerdings die Szene mit dem König Torelore zu lang, die Karikatur verselbstständigte sich und die dramaturgische Aufmerksamkeit auf das Liebespaar schien mir vernachlässigt. Auch hat der Kraftakt der ständigen blitzartigen Verwandlungen die Darstellerin im zweiten Drittel des Stücks so sehr gefordert, dass die Intensität des Spiels nachließ. Da aber Steffi Lampe mit Leichtfertigkeit, Schwächen mühelos und augenzwinkernd spielte, wurden kleine Schwächen in der Darstellung charmant kaschiert.
„ Die kluge Bauerntochter“ – Spielfassung und Regie: Paul Olbrich, Ausstattung: Kristine Stahl, Darstellerinnen: Steffi Lampe, Kristine Stahl. Wer von den geneigten Lesern die genannten Personen kennt, ahnt bereits, welch skurriler Humor diese Aufführung geprägt hat. Die Spielgruppe „Flotter Lappen“ besteht aus Frau Grützmüller (Steffi Lampe) und Frl. Dängelmann (Kristine Stahl), zwei Damen, die ständig kleine Feindseeligkeiten austragen, die jeweilige Rollengestaltung ist sozusagen eine Provokation an die Adresse der anderen Spielerin. Die Figuren bestehen aus geknoteten Tüchern, die mit einer Hand gehalten und auf einer Tischbühne bewegt werden.
So eine Tuchfigur wird immer mit der anderen freien Hand der Spielerin ergänzt; beide Teile – also Figur und Hand – wurden gestisch sehr genau geführt.
Die Handlung entsprach dem Märchen der Brüder Grimm, nur dass der Bauer seine wirtschaftliche Katastrophe anderen gegenüber schönfärbte und dass er auf Anregung seiner Tochter den König telefonisch um ein Stück „Rodland“ bat. Das klingt zunächst recht trivial, doch da Kristine Stahl den Bauern sächselte und die Situation so glänzend ausspielte, entstand ein ungewöhnlicher Humor. Wunderbar auch die Szene, in der die Tochter „nicht laufend und nicht geritten, nicht angezogen und nicht nackt“ zum König kommen sollte. Diese Prozedur wurde gar nicht gezeigt, sondern nur von beobachtenden Bauern geschildert, ganz plastisch und in einer Haltung, die zwischen Bewunderung und Empörung wechselte. Mit der „klugen Bauerntochter“ erlebte man großes Puppentheater, das optisch spartanisch, ganz auf virtuoses Spiel gesetzt hat. Die Komik des Ganzen entsprang der Figurenbeziehung und dem Witz des Textes. So z.B., wenn der eine Bauer behauptet, das frisch geborenen Fohlen sei sein Kälbchen, denn es habe in der Nähe seines Ochsen gelegen. Und wenn das Fohlen wieherte meinte der Bauer „Muh musst du sagen!... Na, du wirst das schon noch lernen!“ Solche und andere Stellen waren deshalb so komisch, weil durch ganz genaue Bewegungsabläufe und eine die Charaktere und Situationen bedienende trockene Sprechweise die Vorgänge so heiter erhellt wurden.
„ Django – die Rückkehr – eine witzige Westernparodie mit Marionetten verdammt frei nach den Brüdern Grimm“. So kündigen Carsten Dietrich, Daniel Wagner und Steffi Lampe ihr Vordiplomprojekt (Regie: Regina Wagner, Ausstattung: Steffi Lampe) im Flyer des Figurensommers an. Tatsächlich ist die Handlung deutlich an den Grimmschen „Meisterdieb“ angelehnt. Einer, der als jugendlicher Taugenichts von seinen Eltern abgelehnt wurde, kehrt als inzwischen reicher Mann nach Hause zurück und gibt sich seinen armen Eltern zu erkennen. Er ist ein Meisterdieb (im Western ein „Desperado“) geworden.
Im Märchen werden ihm von einem Grafen schier unlösbare Aufgaben gestellt. Im Western ist es der Gouverneur Braddock, ein alter Feind Djangos, der ihn vernichten will. In herrlich witzigen Szenen besiegt Django die Leute des Gouverneurs. Nun soll er an seiner Anmaßung, alles stehlen zu können, scheitern. Im Märchen und im Western muss der Held ein bestens bewachtes Pferd entwenden und einer schlafenden Frau das Bettlaken unter dem Hintern wegstibitzen. Im Märchen ist es die Frau des Grafen, im Western ist es die Gouverneurstochter. Dem Helden gelingt natürlich alles und im Western verbindet er sich zu guter Letzt auch noch mit der Tochter des Gouverneurs.
Die Figurenführung war in „Django“ weniger virtuos. Handwerkliche Perfektion war auch gar nicht nötig und möglich. Die kleinen Stabmarionetten waren im wörtlichen und metaphorischen Sinne „hölzern“. Figuren und Bühne sahen aus, als stammten sie von einem Cowboy, der sich beim Kühehüten seine Langeweile mit bisschen Schnitzen, Basteln, Malen vertrieben hat. Die Naivität der optischen Gestaltung stand im komischen Widerspruch zum Inhalt des Stücks, in dem es eigentlich um Tod und Leben ging. In „Django“ wirkte alles Heroische und alles Gefährliche lustig. Ironie machte aus allem Belachenswertes, Überwindbares.
In der nächsten Aufführung „Ein leiser Hauch von Schrecken“ wird das Prinzip der Ironisierung auf eine schwarzhumorige Spitze getrieben. Regie: Hans Jochen Menzel, Ausstattung: Friederike Sommerfeld, Christian Werdin, Spieler: Carsten Dietrich, Daniel Wagner, Jan Mixsa. Ein selbstgefälliger Psychiater hält ein Seminar über Angst und die therapeutischen Möglichkeiten zu deren Überwindung. Zu diesem Zweck demonstriert das Team mit Hilfe eines einfachen modellhaften Schattenspiels, wie Angst in der Nosferatustory, die mit dem Hauskauf in Transsilvanien beginnt, entstehen kann. Natürlich wirkt alles unangemessen lächerlich. Das Seminar gipfelt schließlich in einem „Filmbeitrag“ (- Handpuppenbühne -) in dem zwei unberechenbar aggressive Vampire freigelassen sind und ihre Schreckensherrschaft ausbreiten. Der Teufel inszeniert einen Krieg, Kasper versucht seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, Grethel fragt jeden: „Wo geht´s zur Franz-Schneider-Straße?“ Wer darauf nicht sofort korrekt antwortet, wird von ihr erstochen. Ein heilloses, aber witziges Durcheinander, eine logisch gebaute Geschichte konnte ich nicht mehr erkennen. Das entspricht dem Thema, denn Aggression und Angst ordnen sich nur bedingt einer Logik unter, sie kommen spontan und stiften Chaos. Die kleinen Handpuppen zappelten derart heftig, dass sich die klassischen Handpuppengelehrten im Grabe umdrehen würden, aber gerade diese unangemessene äußere Bewegtheit spiegelte auf saukomische Weise die innere Gärung wieder, die in den Rollenfiguren tobte. Die Einlagen der Menschendarsteller, allen voran Carsten Dietrich als Psychiater, waren bravourös gespielt. Eine Aufführung zum auf die Schenkel klopfen! Ich glaube, die Zuschauer verbinden sich durch ihr Lachen mit der Weltsicht der Spieler, deren Respektlosigkeit und Sarkasmus wenigstens kurzzeitig von dem Druck befreien können, den die Welt mit ihren überkommenen Werten ausübt.
„ Winnetou – Sandkastenphantasien“ von und mit Patricia Christmann, Ausstattung: Friederike Sommerfeld, bezeichnet sich nicht als Puppentheater, sondern als Performance. Um den 1,50 m ? 1,50 m großen Sandkasten sitzen die Zuschauer in Hufeisenformation. Auf den breiten Umgrenzungsbrettern des Sandkastens sind die im Handel erhältlichen kleinen Indianer und Trapperfiguren – früher Blei, heute Plaste – aufgestellt. Von der Schallplatte ertönt heroische Musik und gleich danach folgen die rauen Männerstimmen dieser Hörspielaufnahme des Karl May´schen Werkes. Patricia Christmann illustriert den Text, indem sie die Figuren im Sand versetzt und bewegt. Außerdem untermalt sie die wörtliche Rede der Aufnahme, indem sie tonlos die Worte mimisch nachmodelliert; teils karikierend, teils kommentierend ist ihr Gesicht in ständiger Bewegung. Diese Ausdrucksform war für mich unterhaltsamer als das Verrücken der Figuren, das sich bei den wenigen Veränderungen der Sandkastenlandschaft sehr bald erschöpfte. Diese Aufführung gab es zwei Mal; beim ersten Mal fiel hin und wieder der Plattenspieler aus. Patricia Christmann spielte die Situation der Panne mit ihrer schrulligen übereifrigen Art so gut aus, dass diese Vorstellung zusätzliche Lacher erhielt und eine heitere Stimmung beim Publikum auslöste. Die zweite perfektere Aufführung dagegen verlief fast ohne bemerkenswerte Zuschauerreaktionen.
Wenn ich die Formen der Parodie von „Django“ und „Winnetou“ vergleiche, kann ich folgende Übereinstimmungen und Unterschiede feststellen: In beiden Fällen war die Form, also die Art der Figuren dem Stoff, wenn man ihn ernst nähme, unangemessen, verulkt. Aber in “Django“ wird eine Handlung, wird ein Text zugrunde gelegt, der die Westernmasche erfüllt und sie gleichzeitig auf die Schippe nimmt und verwitzelt. Bei „Winnetou“ wird ein erstgemeintes Original in Hörspielform mitgeliefert und parodistische Mittel torpedieren es von außen. Insofern trifft es zu, dass „Django“ eine Theaterinszenierung ist und „Winnetou“ eine Performance; beim ersteren kommt die Handlung durch das Figurenspiel zustande, beim zweiten wird die Handlung durch das ernste Hörspiel vorgegeben und das kontrastreiche Nebeneinander der Mittel wird zum Ereignis.
Jetzt komme ich zur letzen, meiner liebsten Aufführung: „Jungs sind anders – Mädchen auch“. Die unterhaltsame Geschichte aus einem Familienleben für Puppen und zwei Clowns haben Ute Kotte und Matthias Faltz regielich betreut, die Ausstattung besorgte Marita Bachmeier. Die Spielerin war Kristine Stahl, der Spieler war Matthias Faltz.
Das Ganze beginnt mit einer „Familienaufstellung“ im wahrsten Sinne des Wortes. Die Clownfrau und der Clownmann versuchen, die kleinmenschenhohen pummeligen Stoffgebilde mit ihren verdellten Köpfen und sehr allgemeinen Gesichtern zu benennen und auf dem Boden zu positionieren. Überhaupt war das Hin und Her, das Schieben, Stellen, Legen, das Hinter- und Übereinanderpacken der Figuren beredter Ausdruck für die Wahnsinnsmühe, die ein jeder mit einer großen Familie hat. Irgendeine Unternehmung ist geplant. Folgende Dialogfetzen:
„Was ist denn jetzt?!“
„Der Opa schiebt.“
„Wo sind denn unsere Plätze?“
„Weiß ich nicht.“
„Du hast sie doch bestellt!?“
„Wieso habe ich sie bestellt?“
„Du hast gesagt, dass du sie bestellst.“
„Ich wollte, aber es war ja nicht sicher.“
„Und jetzt ist Johannes nass!“
Das Großartige war, dass die Spieler die Vorgänge zwischen den Figuren, die zumeist Prozesse der Entfremdung waren, ganz genau spielten, aber eben mit überhöhten clownesken Mitteln. Das Clowneske bestand einmal in der plakativen Handlung, in der Kostümierung und Maskierung und vor allem in der pantomimischen Verdeutlichung der Vorgänge.
Stellenweise verselbstständigten sich Passagen durch eine besondere Clownerie, aber immer wurde die Handlung bedient, niemals gehemmt. Da geht z.B. ein Kinderwagenrad ab. Wie da der Mann das Rad mit wissenschaftlichem Tiefblick ansieht, wie er es hin- und herwendet, um hinter das Geheimnis der richtigen Montage zu kommen, das war einfach köstlich! Eine Passage wurde nur durch einen „Pfeifdialog“ gestaltet. Über den Inhalt des Stückes will ich mich nicht auslassen; „Inhalt“ – das sind in diesem Fall Bilder, Momentaufnahmen des vom Widerspruch zwischen Mann und Frau bestimmten Familienlebens. In einer Textstelle wird darauf verwiesen, dass sich schon bei Kindern der Unterschied bemerkbar mache: „Es gibt welche, die mit einer Prinzessin spielen und es gibt andere, die spielen lieber mit Rittern.“
Es war schon eine besondere Art von Humor die in dieser Aufführung waltete, sie führte den Zuschauer trotz des Lachens in die Tiefe, in die Abgründe menschlichen Zusammenlebens.
Ich bin am Ende meines Erlebnisberichts vom Halleschen Figurensommer.
Es folgte noch ein Abschlussabend mit verschiedenen Spektakeleinlagen, dann setzte sich die Musik zum Tanzen durch, es ging weit bis in die zweite Nachthälfte hinein. Und wie an allen Abenden zuvor, glänzten auch in dieser Nacht die Augen aller, die dabei waren. Soviel Entspanntheit, soviel heiteres Einverständnis habe ich selten erlebt.

Halle, 12.08.04
Horst Günther

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